Geburt – Ein Ausbruch von Lebensfreude

Ich hatte aufgrund von Krankheit gerade einem Menge Zeit, in meinen Büchern zu stöbern, und lasse für euch heute einmal Frédérik Leboyer, den berühmten, französischen Geburtshelfer, zu Wort kommen:

Du musst nämlich wissen, eine Entbindung, eine Geburt ist wie ein Ausbruch von Lebensfreude. Das Leben ergießt sich in Dich und es ist so stark, dass es alle Grenzen, alle Barrieren sprengt. Ein Fluss, der auf einmal so viel Hochwasser führt, dass er wie rasend alles wegfegt, alles überschwemmt, was ihm im Weg steht.
Was ist das? Was „schäumt“ bei einer Entbindung über? Es ist das Leben! Es ist die Liebe! Ja, es ist die Freude! Und all das mit einer Kraft, die Dich in Angst und Schrecken versetzt.
Die überspülten Ufer des außer Kontrolle geratenen, Hochwasser führenden Flusses haben einen Namen: Sie sind Dein „kleines Ich“ oder auch Dein Ego, welches sich ein Erlebnis dieses Ausmaßes gar nicht vorstellen konnte. Und als dieses „kleine Ich“ spürt, dass es mitgerissen wird, leistet es Widerstand. Es reagiert wie in der Psychoanalyse, in der es so viel Widerstand gibt.
Auf die Frage „Wo entbinden?“ gibt es eine klare Antwort: Dort, wo die Wehen angefangen haben. Und wenn man gerade im Supermarkt ist? So schnell wie möglich nach Hause! „Wohin soll ich gehen? Wo wird man mich entbinden?“ All diese Fragen stellen sich nicht mehr, wenn man wirklich verstanden hat, dass niemand, ja niemand für Dich entbinden kann.
Leider gibt das „kleine Ich“, das Ego, nicht so schnell auf. Die Widerstände melden sich zu Wort: „Zu Hause entbinden? Ist das denn klug? Geht man da nicht große Risiken ein?“ Weil Du genau weißt oder zumindest ahnst, dass dies nur die Sprache der Angst ist, fängt der ganze Hokuspokus von vorn an: „Setze ich mein Kind nicht großen Gefahren aus?“ Das käme nicht in Frage. Folglich wird man Dich auf direktem Weg zum Arzt schicken und schon wärst du gefangen, in die Fallgrube gestürzt:

„Herr Doktor, ich erwarte ein Kind.“
„Ja?“
„Und ich …“
„Sie haben Angst?“
„Ja, Herr Doktor, Sie haben es erraten.“
„Also Angst. Ein bisschen Angst?“
„Nein, um ehrlich zu sein, ich habe schreckliche Angst.“

Und schon nimmt der Geburtshelfer die Sache in die Hand.

„Sie müssen sich nicht schämen. Ihre Angst ist ganz natürlich. Eine Entbindung ist eine risikoreiche Geschichte, die sehr viele Gefahren in sich birgt.“
„Nicht wahr?“
„Außerdem ist alles neu für Sie.“
„Das ist sicher der Grund für meine Angst?“
„Offensichtlich.“
„Aber Sie, Herr Doktor, kennen sich aus?“
„Natürlich.“
„Herr Doktor, da Sie sich so gut auskennen und ich nichts weiß, absolut nichts, würden Sie mich entbinden?“
„Sehr gern.“
„Die Freundin, die mir Ihre Adresse gegeben hat, hat mir gesagt, dass sie ihr eine Narkose verabreicht habe (oder dass sie eine Peridural- oder eine Epiduralanästhesie bekommen hat). Würde Sie das auch bei mir machen?“
„Sie können sich auf mich verlassen, versprochen.“
„Ach, Herr Doktor, wie soll ich Ihnen bloß danken? Ich bin ja so erleichtert und beruhigt.“

Und schon ist die Frau in die Falle gegangen, in eine ausgeklügelte Falle.
Weshalb fällt sie darauf herein? Wegen ihrer Angst, das ist klar. Diese Angst ist die heimliche Triebfeder aller Machtmechanismen, sei ihre Macht politischer, religiöser oder wie hier medizinischer Natur.
Weil die Mächtigen sich gegenseitig die Hand reichen, ist es heutzutage so, dass man die Frauen nicht darin bestärkt, selbst zu entbinden, sondern es ihnen aus Sicherheitsgründen untersagt. Eine Sicherheit hat es aber niemals gegeben, weil das Leben einfach riskant IST. Jederzeit, überall und erst recht während der Entbindung. Es ist wie ein Sprung ins Ungewisse, und jede „richtige“ Frau müsste das ausgesprochen aufregend finden – aber sicher! – steht es doch ganz im Gegensatz zu dem wahnsinnigen Einerlei des grauen Alltags.
Ist eine Entbindung denn wirklich so gefährlich? Überhaupt nicht! So riskant? Sie ist doch das Natürlichsten, was es gibt. So voller Angst? Das schon.
Aber Angst und Gefahr sind nicht dasselbe.

aus: Atmen, singen, gebären von Frédérick Leboyer, Walter Verlag, Düsseldorf 2006, S. 16-19.