Schon bevor ich Kinder bekam, hatte ich recht genaue Vorstellungen davon, wie ich meine Kinder mal erziehen wollte: Mit Liebe, Großzügigkeit und so viel Freiheit wie möglich. Auf jeden Fall ohne die Strenge und Kleinkariertheit meiner eigenen Kindheit. Ich wollte meinen Kinder Selbstbewusstsein, Mut und ein gerades Rückgrat mitgeben. Sie sollten keine vor Angst eingeschüchterten Mäuschen werden so wie ich als Kind. Das wie erschien mir (jedenfalls in der Theorie) schnell klar. Einige Recherchen im Internet zum Thema überzeugten mich endgültig: Erziehen war schlecht, nicht erziehen, nicht einmischen besser. Der Gedanke dahinter: Erst durch die übliche Erziehung wird der moderne Menschen, was er heute ist: ein fauler, ständig unzufriedener, phobischer und anerkennungsheischender Egoist. Würde man die Kinder nur machen lassen, würden sie sich die Welt allein erforschen und unbeeinflusst von durch ihre eigene Kindheit traumatisierte Erwachsene zu einem friedliebenden Teil der Gesellschaft werden. Nach der Lektüre von „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ (Liedloff) war klar: So muss die ursprüngliche Erziehung bzw. Nicht-Erziehung aussehen, wenn selbst die Indianer im Dschungel es so machen. Also, auf alle Bedürfnisse direkt reagieren, möglichst nie „nein“ sagen, keine Befehle erteilen, verständnisvoll ausweinen lassen und das Kind auf Augenhöhe an den alltäglichen Entscheidungen beteiligen. Für mich klang das gut und überzeugend. Ich war sicher, dass meine Kinder über so viel Freiheit dankbar sein würden und zu verantwortungsbewussten, freundlichen Menschen werden würden. Zunächst ging das auch wunderbar. Unser Baby wurde zu Hause geboren, durfte neben Mama im Bett schlafen, stillen, wann es wollte – hervorragend, nicht nur für das Baby, sondern auch für die Mama. Aber mein Baby wurde älter und es bekam erst ein Geschwisterchen, dann noch eins und noch eins. Sie war nicht mehr das Baby, auf dessen Mucks ich sofort reagieren konnte und wollte. Und dann rutschte mir das „verbotene“ Wort doch immer öfter heraus: „Nein!“
Zu meinem Verdruss zeigte unser Tochter keine Spur von Friedfertigkeit oder Dankbarkeit angesichts unserer einfühlsamen, freiheitlichen Behandlung. Nein, sie forderte. Mehr und mehr und mehr. Später diskutierte sie in Endlosschleife und wusste oft doch gar nicht, was sie eigentlich wollte. Sah so das Leben mit Kindern aus? Sollte ich mir das alles wirklich unkommentiert und ungebremst bieten lassen? Nach der xten Trotzattacke von gern auch an die 2 Stunden war mein liebevolles Verständnis auch aufgebraucht. Zu Hause lief es noch irgendwie, aber so bald wir irgendwo zu Besuch kamen, lagen die Nerven blank. Meine Eltern schenkten mir das Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (Winterhoff). Deutlicher kann man nicht mit dem Zaunspfahl winken. Hatten wir versagt? Oder war unsere Umwelt einfach Kindern gegenüber unsensibel? Ich kam jedenfalls nicht umhin, meine Theorie in manchen Punkten an die Realität anzupassen und musste einsehen, dass:
– ich nur ein Mensch bin. Meine Geduld, mein Mitgefühl und all das haben Grenzen. Wehe, wenn ich nachts nicht genug Schlaf bekommen habe!
– meinen Kindern der Respekt vor Mitmenschen leider nicht angeboren wurde. Sie müssen ihn erst lernen, unter anderem in dem ich ihnen ein authentisches Gegenüber mit Wünschen und Grenzen vorlebe.
– meine Kinder hartnäckige, kleine Egoisten sind, deren Gedanken vorwiegend darum kreisen, das größte Stück vom Kuchen und das schönste Spielzeug für sich zu haben. Ich freue mich natürlich, wenn sie über sich selbst hinauswachsen, und trotzdem teilen und großzügig sind. Aber ich wundere mich auch nicht über das alltägliche „Meins!“, „Ich will das!“, „Ich hatte das zuerst!“
– meine Kinder Hilfe brauchen, mit ihren Emotionen umzugehen. Einfach verständnisvoll ausweinen lassen ist nicht immer. Sie steigern sich manchmal in Launen und Gefühle rein, die eine liebevolle, aber deutliche Begrenzung brauchen. „So, das war jetzt aber nicht so schlimm. Jetzt kannst du wieder aufhören zu weinen.“ Wie überall ist hier Bauchgefühl gefragt, denn die gleichen Sätze können in einer anderen Situation völlig unpassend sein.
– meine Kinder, wenn sie müde oder krank sind, nicht mehr zurechnungsfähig sind. Dass, was sie sonst können, ist ausgeschaltet, und das einzige, was man tun kann, um das Elend zu beenden (und mitunter auch seine Wohnungseinrichtung zu retten), ist, sie schnell ins Bett zu bringen bzw. irgendwie bis zum Ende der Krankheit auszuharren.
– meine Kinder keine Engel sind. Und es ist auch nicht automatisch meine Schuld und mein Versagen, wenn sie rücksichtslos, laut, quengelig, uneinsichtig und gemein zu einander sind. Da sitzt meine Tochter (6 Jahre) beim Frühstück vor ihrem Frühstücksei. Der Morgen ist bis jetzt angenehm verlaufen. Bis jetzt. „Mama, ich finde, du bist eine blöde Mama. Ich will lieber bei der Oma wohnen.“ Ich (seufze innerlich, weil ich weiß, in was für einer Stimmung sie ist, wenn sie so anfängt): „Aha.“ Sie: „Ich finde, du bist die blödeste Mama auf der Welt. Immer machst du …“ Dann folgt eine Endlosschleife an Aufzählungen, wenn ich sie nicht abwürgen würde: „Hör auf damit! Ich möchte nicht, dass du so mit mir sprichst.“ Sie: „Ich finde aber …“ Und fährt unbeeindruckt mit ihren Tiraden fort. Ich: „Wenn du nicht sofort aufhörst, setze ich dich vor die Tür. Ich möchte sowas hier drin nicht hören.“ Sie setzt noch einen drauf: „Du bist eine blöde Hexe, Mama! Ich will dich nicht mehr sehen!“ Und schließlich landet sie vor der Tür. Natürlich nicht ohne um sich zu kratzen und zu schlagen und mich weiterzubeschimpfen. Und dabei benutzt sie üblere Worte als ich hier niederschreibe. Ich weiß nicht, warum sie sich so verhält, oder warum mein größerer Sohn (4 Jahre) Freude daran hat, seine Geschwister mit einem „xy ist böse“-Singsang bis aufs Blut zu reizen, warum sie sich manchmal beißen, bis es blutet, oder sich Holzklötze über den Schädel ziehen. Von uns haben sie das jedenfalls nicht. Ich glaube auch nicht mehr an das Menschenbild vom lieben Kind, das nur durch seine Umwelt zum unausstehlichen Egoisten wird. Meine Beobachtung ist eine andere: Der Egoist steckt irgendwo in jedem von uns und wir lernen (durch eine hoffentlich gute Erziehung begleitet), mit ihm konstruktiv umzugehen.
– meine Kinder feste Strukturen und klare Ansagen lieben. Abgesehen davon, dass es unseren Zeitrahmen sprengen würde, wären meine Kinder davon überfordert, jeden Morgen ihre Kleider selbst auszuwählen (außer die Große, da darf ich nicht ran), zu wählen, was und wann sie frühstücken usw.. Sie äußern zwar ihre Wünsche, von denen sich auch einige umsetzen lassen, aber im Großen und Ganzen genießen sie es, ihren Tag von Mama und Papa strukturieren zu lassen und einfach dem zu folgen, was wir vorgeben.
– Erziehen Arbeit bedeutet und anstrengend ist. Mein 4jähriger jammert mir in Endlosschleife ins Ohr: „Mama, ich will Melone“. Nach dem zwanzigsten Mal ist mein Schädel weich. Nach dem dreißigsten Mal will ich explodieren. Ich (zum wiederholten Mal und nicht mehr ganz so freundlich und verständnisvoll): „Du hattest Melone! Heute gibt es keine Melone mehr! Es ist spät und sonst schwimmt heute Nacht das Bett.“ Seine Ohren sind wie zubetoniert. Es wäre verlockend jetzt nachzugeben. Er kriegt seine Melone, ich meine Ruhe. Solche und ähnliche Situationen auszuhalten ist nicht angenehm und warum soll man sich das wegen einer dummen Melone antun? Und doch ist es für meinen Sohn eigentlich das Beste, was ihm passieren kann. Wenn er jetzt lernt, dass Frust ein Gefühl ist, das man aushalten kann, dann wird er das auch später können und seinen Frust nicht durch Drogen betäuben oder durch Nichtstun oder Hinschmeißen umgehen. Wenn er jetzt lernt, dass sein Wunsch nicht alles ist, sondern dass auch andere Leute Wünsche haben, dann wird er auch später auf die Wünsche anderer Rücksicht nehmen können, anstatt nur seinen Kopf durchzusetzen. Frust auszuhalten will gelernt sein. Aber dafür muss ich bereit sein, sein Genörgel, Geschrei und Generve auszuhalten. Und das zehrt mitunter ganz schön an den Kräften. Da wünsche ich mir insgeheim doch, dass das Nicht-Erziehen bei uns funktionieren möge.
Der Versuch, nicht zu erziehen, ist bei uns nicht zuletzt dank der Kinder vor den Baum gegangen. Mit einem Kind mag es möglich sein, keine Vorgaben zu machen und nicht einzugreifen. Aber spätestens wenn Nummer 1 unbeirrt und mit Wonne auf Nummer 2 herumspringt, muss man sich etwas überlegen. Gerade bei intellektuellen, bewusstlebenden Menschen scheint Nicht-Erziehen momentan richtig in Mode zu sein. Darin spiegelt sich meiner Meinung nach auch eine tiefe Unsicherheit. Die Unsicherheiten dieser Gesellschaft gepaart mit der Verwirrung unzähliger sich widersprechender Erziehungsratgeber und Wissenschaftler und nicht zuletzt ein fehlendes Vertrauen in das eigene Bauchgefühl. Man will alles richtig machen, weiß aber nicht wie. Ich kenne diese Unsicherheit. Ich wollte nicht dauernd herumschreien und schimpfen wie meine Mutter. Ich wollte nicht, dass meine Kinder sich so eingeengt und übergangen fühlen wie ich mich damals. Ich dachte: Nicht erziehen? Das Kind lernt alles selbst, solange ich mich nicht einmische? Super! Da kann ich ja nichts falsch machen! Die Realität hat meine Ideen inzwischen gerade gerückt. Wie beim Gebären denke ich, hilft auch hier nur eine Rückkehr zum eigenen Bauchgefühl. Das heißt natürlich nicht, das eigene Handeln nicht ab und zu zu reflektieren. Und genauso wichtig ist es, die Folgen des eigenen Erziehens zu beobachten. Aber wenn wir in der großen Unsicherheit verbleiben, von wem sollen unsere Kinder Mut und Selbstbewusstsein vorgelebt bekommen?
Ich lese bewusst eigentlich keine Erziehungsliteratur mehr. Es verunsichert mich einfach zu sehr. Ich mache sicher nicht alles richtig, aber unter den gegebenen Umständen mache ich es so gut wie möglich. Und das muss reichen.
Natürlich gibt es auch Sachen aus meiner Kindheit, die mir gefallen haben und die ich übernommen habe. Ich fand es gut, dass meine Mutter uns bis zum Beginn der Schule zu Hause groß werden ließ und dass sie immer für gutes Essen auf dem Tisch sorgte. Ich schätze ihre Fähigkeit, Dinge, auch unangenehme Dinge, durchzuziehen, weil man ein Ziel vor Augen hat. Als Kind hat mich das unglaublich genervt. Wir mussten (gefühlt) stundenlang Johannisbeeren von Sträuchern pflücken oder tote Äste mit der Schere zerkleinern. Aber jetzt, im Rückblick, bin ich dankbar, dass sie mir ein hohes Maß an Frustrationstoleranz beigebracht hat, das viele der jüngeren Generation nicht mehr zu besitzen scheinen.
Also, ja, ich erziehe meine Kinder. Ich erziehe nicht wie meine Eltern, versuche aber, gute Anteile zu übernehmen. Ich hoffe, dass ich einen guten Mittelweg zwischen Strenge und Milde, Regeln und Freiheit gefunden habe. Meine Kinder sind alle sehr aufgeschlossen, auf keinen Fall eingeschüchtert und ängstlich. Das freut mich. Sie sind selbstbewusst, manchmal auch ziemlich frech und unverschämt. Das ist wohl die Kehrseite ihres Selbstbewusstseins. Sie können sich hauen und beißen und zum Kuckuck wünschen, aber auch friedlich zusammen spielen. Sie helfen mir sogar unaufgefordert regelmäßig beim Kochen oder Putzen! Ob sie sich nun wegen oder trotz ihrer Erziehung so entwickeln, weiß ich nicht. Aber augenscheinlich ist ihre Entwicklung gar nicht so sehr davon abhängig, dass ich alles richtig mache.